William Morris und sein Red House: Ein Meisterwerk der Arts and Crafts-Bewegung
Der Künstler als Botaniker: William Morris entwarf im 19. Jahrhundert Muster und Motive, die bis heute Wände, Kissen und Notizbücher zieren. Sein „Red House" bei London bewahrt die Ideen des Dichters und Designers.

Regen strömt von roten Ziegeldächern und Schornsteinen auf roten Backstein, rinnt über gotische Bögen, weiße Fensterrahmen und auf Spalierobst und Kletterrosen, die sich zu spitzen Giebeln emporranken. Einen Brunnen beschirmt gnädig ein Dach. Blühende Beete, eine Sitzgruppe im Obstgarten und der Laubengang lassen ahnen, was für ein himmlischer Flecken der Garten von Red House bei freundlichem Wetter ist. Doch auch unter schwerem Himmel wirkt das Anwesen verwunschen. Hinter einer roten Mauer verbirgt es sich vor den Doppelhäusern mit planierten Vorgärten gegenüber, die dank der Lage im Großraum London vermutlich ein Vermögen kosten und doch im Vergleich zum roten Ensemble im Grünen auf der anderen Straßenseite aussehen wie einfallsärmster Wohnungsbau.
„The beautifullest place on earth" nannte William Morris' Freund Edward Burne-Jones dessen rotes Haus: den schönsten Ort auf Erden. „Ein Wunder seiner Zeit, jenseits jeder Beschreibung" und "mehr ein Gedicht als ein Haus", so schwärmte ein weiterer Freund, der präraffaelitische Maler und Dichter Dante Gabriel Rossetti. Tatsächlich waren beide an der Erschaffung dieses Juwels beteiligt, es war das Gemeinschaftswerk einer Gruppe vielseitig begabter junger Menschen. Der 1834 geborene Morris war Sozialist, Übersetzer und Verleger, kam als Maler, Dichter und Begründer der Arts and Crafts-Bewegung zu Ruhm und wird bis heute für seine Muster und Ornamente geliebt. Er ersetzte Schwere und Dunkelheit viktorianischer Interieurs durch Licht, Leichtigkeit und zarte Farben und legte zugleich größten Wert auf Solidität von Material, Form und Handwerk.
Morris und Burne-Jones hatten Rossetti bereits bei Wandgemälden für den Debattierclub in Oxford unterstützt. Bei Bau und Gestaltung von Red House vereinten sie ihre Talente und ihr Ideal gemeinsamer künstlerischer Arbeit und schufen ein reich und romantisch dekoriertes Wohnhaus. Architekt Philip Webb, mit dem Morris sein Leben lang zusammenarbeitete, machte die Pläne, Burne-Jones und Rossetti bemalten Wände, Morris bewahrte Vision und Überblick.
Im Herbst 1858 hatten der aus wohlhabendem Elternhaus stammende Morris und seine Verlobte Jane Burden, ein Modell aus Oxford, bei der Suche nach einem ehelichen Heim in Upton bei Bexleyheath einen achttausend Quadratmeter großen Obstgarten gefunden. Was heute zum dicht besiedelten Großraum London gehört, war liebliche Landschaft; Apfelhaine und Hopfenhäuser ließen kaum ahnen, dass die Hauptstadt mit dem Zug ab Upton schnell erreicht war. Besonders bedeutsam erschien dem Romantiker und Mittelalter-Verehrer Morris, dass nur zweihundert Meter vom Grundstück entfernt mit der Watling Street jene Straße verlief, die Geoffrey Chaucers Pilger nach Canterbury geführt hatte.
„Bau mir ein Haus in mittelalterlichem Geist", so lautete der Auftrag des Bauherrn Morris. Schiefer war tabu, da nicht ortstypisch, Stuck, der sich als Stein nur ausgab, ebenfalls. Stattdessen wünschte sich Morris den roten Backstein, aus dem zahlreiche Cottages und Pfarrhäuser in Kent und Sussex erbaut sind.
Ergebnis war ein maßgeschneidertes Heim für Morris, „ein Haus, in dem er glücklich sein würde", wie Edward Burne-Jones meinte. Als William und Jane im April in Oxford heirateten, waren Webbs Zeichnungen fertig, die Bauarbeiten begannen. Im Juni 1860 zogen sie ein. Die Töchter Jenny und May wurden hier geboren, und hätte Jane nicht eine Affäre mit dem Vielweiberer Rossetti gepflegt, wäre das Glück perfekt gewesen.
Red House ist der einzige seiner Wohnsitze, den Morris selbst bauen ließ, und bündelt so die ästhetischen Ideale der Arts-and-Crafts-Bewegung. Auch die meisten Möbel für sein Traumhaus ließ er von seinem Architekten entwerfen. Denn Möbel aus hochwertigen Materialien und traditionellen Formen, wie sie ihm vorschwebten, fand er nirgends fertig zum Kauf. So führte die Einrichtung des Hauses ihn und Webb zur Gründung einer Firma für Innenausstattung. Der Garten inspirierte Morris außerdem zu einigen seiner berühmtesten Designs, darunter seine Tapete „Trellis" (Spalier) mit Vögeln und rankenden Rosen. Und nicht zuletzt verbrachte er hier mit seiner Familie die womöglich schönsten fünf Jahre seines Lebens.
Zum Glück für Morris-Liebhaber hatte Red House nach ihm nur wenige Besitzer, die behutsam mit dem Haus verfuhren - ein Paar tapezierte die Räume respektvoll mit Morris-Tapeten -, bevor das Anwesen im Jahr 2003 an den National Trust fiel. „Seitdem entdecken wir ständig Neues", erklärt ein Guide - etwa die Fresken an der Decke des großen Salons im ersten Stock. Zudem befinden sich hier ein Pianoforte und ein von Morris entworfener Bücherschrank mit beheizter Lesebank und einer Galerie darauf. Sie bot Zugang zum Speicher und diente der Familie zum Lagern von Äpfeln aus dem Garten. In Williams und Janes Schlafzimmer nebenan kamen unter Tapeten Fragmente von biblischen Gestalten zum Vorschein - der Beginn einer Darstellung der zwölf Stämme Israels, an der auch Rossettis Frau Lizzie beteiligt war.
Mittelalterlich anmutende Glasmalereien in den Fenstern zum Garten, vier Glasfenster über der Eingangstür, die die vier Jahreszeiten zeigen, die Terrakotta-Fliesen und die abstrakten Muster, mit denen Morris die Decken dekorieren ließ, sind erhalten. Eine Garderobe aber hatte ein späterer Bewohner über einige der Wandfresken von Edward Burne-Jones gezimmert. Ironischerweise kam der Mann, der durch Tapeten-Designs unsterblich werden sollte, selbst ohne aus. Was er nicht bemalen ließ, schmückte er mit selbst entworfenen Wandbehängen - inspiriert von nichts Geringerem als den Wandteppichen von Bayeux in der Normandie.
Ins Studio im zweiten Flügel des L-förmigen Hauses flutet von drei Seiten Tageslicht. Neben den Mustern an der Decke, den schönen Holzdielen, dem Kamin und den Fenstern mit Blick auf Garten und Obstbäume ist hier ein Zeichenpult erhalten, unter dessen Arbeitsplatte sich ein Waschtisch verbirgt. Auf Tischen können Besucher in Musterbüchern mit Morris' Designs blättern, und Guide Thenuwara zeigt, welche Motive er in diesem Raum entwarf.
Nur fünf Jahre blieb Red House das Heim der Familie Morris. In jugendlichem Optimismus hatte Morris es als Haus fürs Leben gebaut. Doch es erwies sich als teuer im Unterhalt, und sein Plan eines Zusammenlebens mit Edward Burne-Jones und seiner Frau Georgiana scheiterte. So zog er mit seiner Familie nach Bloomsbury in London. Die meisten Möbel aus seinem Besitz befinden sich heute in Kelmscott Manor in den Cotswolds, das er, Jane und zeitweise auch Rossetti ab 1871 als Sommerhaus nutzten. Hier entstand das unsterbliche Motiv „Strawberry Thief", der bis heute Kissen, Tassen und Notizbücher ziert. Morris entwarf ihn, nachdem er Drosseln im Garten beim gewohnheitsmäßigen Erdbeerendiebstahl beobachtete.
Zeugnisse seiner Produktivität sind zudem von Morris & Co. ausgestattete Häuser wie Standen, das sich in den Wäldern von West Sussex verbirgt. James Beale, Anwalt einer Eisenbahngesellschaft, beauftragte Morris und Webb 1891 mit der Gestaltung seines Wochenendsitzes. Hier sind alle Details erhalten: das Lesezimmer mit Kamin, gemusterten Teppichen, kleinen Tischen und Sesseln; das Billardzimmer mit dem in einen Alkoven eingelassenen Sofa für Zuschauer, die eingebauten Bücherschränke und die hellen Schlafzimmer. Morris' Blüten- und Naturmotive haben die Zeit ohnehin mühelos überdauert. Seine Worte taugen noch immer als Aufräumhilfe: „Habt nichts in euren Häusern, von dem ihr nicht sicher wisst, dass es nützlich ist oder von dem ihr nicht glaubt, dass es schön ist."
Im Dining Room von Red House ist von beidem nur wenig geblieben. Neben einem Einbauschrank muss die Nachbildung eines der Eichentische, von denen hier ursprünglich zwei standen, genügen, um die Gelage von einst zu vergegenwärtigen. Gemeinsame Arbeit beförderte gemeinsame Abende, und die legendären Zusammenkünfte in diesem Raum waren vermutlich einer der Gründe, warum Red House Freunden von William und Jane noch Jahre später im Traum erschien. An den Tafeln fanden sich Bewohner und Gäste nach einem mit Malerei, Zeichnen und Sticken angefüllten Tag zum Essen zusammen. Edward Burne-Jones' Frau Georgina erinnerte sich später, wie Morris bei diesen Gelegenheiten strahlend ins Zimmer trat, ein halbes Dutzend Weinflaschen unter und in den Armen. 1896 starb er mit zweiundsechzig Jahren; sein Arzt nannte als Todesursache, „einfach William Morris gewesen zu sein" - ein Mensch, der so viel gearbeitet hatte wie es sonst zehn Männer kaum schafften.
Information: Red House (Red House Lane, Bexleyheath, London DA6 8JF) kann donnerstags bis samstags von 11 bis 16.30 Uhr besichtigt werden. Der Eintritt für Haus und Garten kostet für Erwachsene 13 Pfund, für Kinder 6,40 Pfund. Zu Führungen sollte man sich vorher anmelden. www.nationaltrust.org.uk/red-house.
Nächster Bahnhof ist Bexleyheath, der direkt ab den Londoner Bahnhöfen Charing Cross, Victoria und Cannon Street zu erreichen ist.
© Fotos: National Trust. Images/Andreas Von Einsiedel